von Bernd E. Scholz
Literatur ist Wahrnehmung der Realität durch künstlerisch geformte Sprache. Sie gibt den Dingen, den Verhältnissen, den Verhaltensweisen, den psychischen Motiven einen allgemeinverständlichen Namen. Das Nicht- oder nur unzureichend Wahrnehmbare wird benannt und dadurch erzählbar. Die Erzählbarkeit der Welt macht aus ihr einen für Menschen bewohnbaren Ort, weil Menschen zu Menschen in einer ihnen verständlichen Sprache sprechen. Sprache ist die ureigenste Ausdrucksform des menschlichen Geistes. Sprachverlust führt zu Orientierungsverlust; wird ein ganzes Volk, ein ganzer Kontinent davon befallen, sprechen wir von Anomie, ein griechisches Kunstwort, das den zu Gesetzlosigkeit tendierenden Geisteszustand einer verstummenden Gattung Mensch bezeichnet. Nicht ohne Grund heißt es daher auch, dass die Gewalt stumm sei. Befinden sich Europa und die Welt demnach in einem Zustand progressiver Anomie?
In Deutschland hat man den Geist und mit ihm die Literatur dorthin ausgelagert, wo sie die wirtschaftlichen Abläufe am wenigsten zu stören scheinen – in die Geisteswissenschaften. (Wer millionenfach Autos produziert, Autobahnen quer durch Europa verlegt, soll dabei nicht über sich selbst nachdenken.)
Deshalb sprechen wir auch wie Rudolf Alexander Schröder in seinen Überlegungen zu Pfingsten 1951 von der »Macht und Ohnmacht des Geistes«.
»Wo man meint, ihn [den Geist] zu benötigen, wird er missbraucht und mit seiner Freiheit seines Wesens beraubt. [105] Auch in früheren Zeiten haben weltliche und geistliche Gewaltherrscher ihre Scheinsiege über den Geist erfochten und seine Ohnmacht aller Welt vor Augen gestellt. Scheinbare Schwächen des Geistes, zum Beispiel das, was wir Heutigen seinen Mangel an Ausweispapieren nennen würden, laden immer wieder zu solcher Vergewaltigung ein.« [Hervorhebung von mir, BES.]
Anderenorts rechnet man die Literatur den »Humanwissenschaften« zu, also den Wissenschaften vom Menschen und seiner Zivilisation, weshalb man dort im Erscheinen begabter ›Namengeber‹ auch die höchste zivilisatorische Errungenschaft sieht.
Abseits der Balkanroute, die heute (im Herbst 2016) in aller Munde ist, bedeutet, so wie wir es verstehen, hin zu den leisen Stimmen abseits der Lärmpegel der Autobahnen, weit weg also von den oft falschen Propheten – aus Brüssel, Berlin oder Paris, weit weg von den durch sie zubetonierten »paneuropäischen« Korridoren, den mautbewehrten Trassen, und noch weiter weg von den Machinationen der EU-Erweiterungskommissare. Wir selbst befinden uns mit der Ausrichtung auf ein geistiges Erzeugnis jenseits der Routen und Korridore. Unser griechischer ›Diadrom‹ beginnt bei Homer, der mazedonische ›Avtopat‹ bei Kyrill und Method, der serbo-kroatische ›Autoput‹, dieser einstige südslawische Weg »der Brüderlichkeit und Einigkeit« beim Freund der Brüder Grimm, dem Serben Vuk Karadžić, dem Heinrich Heine der Vojvodina Branko Radičević, in dessen Lieblingswald, der Fruška Gora, mich eine kleine Tafel als Studenten 1967 daran erinnerte, wo ich herkam: „Hier erschoss die SS im Sommer 1941... « (Wie oft sollte ich solchen Tafeln noch begegnen.) [106]
Es geht uns um einen begabten jungen mazedonischen Autor, der sich selbst als »lost generation« versteht, und hier insbesondere um seine Kurzprosa. Im zeitgemäßen ›Facebook-Format‹ – maximal bis zu 3600 Zeichen Text... Und ziemlich lange müssen wir dann lesen, bis uns der Erzähler einen konkreten Hinweis gibt, der es uns erlaubt, die Geschehnisse dem Lebensraum des Autors zuzuordnen. Das Erzählte selber ist lokal unbegrenzt – räumlich wie zeitlich.
(...)
»All diese Orte, die einmal Glück bedeutet haben, sind heute Friedhöfe von Erinnerungen, bedeckt mit düsteren Gespenstern aus Wellblech, verziert mit Staub und bis zur Unkenntlichkeit verändert. Meine Stadt, früher warst Du Liebe, jetzt bist Du nur noch eine Strafe. [...] Ich hätte nie gedacht, dass Du dich statt mit mir jetzt mit Barock, Kitsch und Schund abgeben würdest.« (Hier S. 48)
Und überhaupt: Im Dezember 2013 findet sich der bekannte Altmeister der mazedonischen Literatur, Vlada Urošević, von der umtriebigsten deutschen Literaturkritikerin Elke Schmitter – wieder im SPIEGEL – in diesen »toten Winkel« Europas verbannt (oder vielleicht doch eher aus ihm hervorgeholt?).
Das mochte 2013 noch als ungeschickte Metapher durchgehen – heute nennen wir eine solche Betrachtungsweise »postfaktisch«, was nichts anderes heißen soll als »durch die Tatsachen nicht erhärtet« –, geographisch-politisch betrachtet war es also falsch. Und doch vielsagend. Nach der Zerschlagung Jugoslawiens – diejenigen, die es zerschlagen haben, angeblich um es zu befrieden, sprechen heute lieber von »Zerfall«.
Und ebenfalls heute, am 24.09.2016, fordert ein »Balkangipfel« in Wien »die völlige Schließung der Balkanroute«. Als ob da irgendwo irgendjemand in einem Maut- oder Zollhäuschen säße, der diese Route einfach nach Lust und Laune auf- und zuschließen könnte.
Und hat nicht die Europäische Gemeinschaft genügend investiert, investieren lassen, um diese Route möglichst »barrierefrei« für alle Güter dieser Erde [110] durchgängig zu machen? Von Bergen in Norwegen bis Aleppo in Syrien? Auch an militärischem Einsatz und überquellender Lieferung von kriegerischen Gerätschaften hat es wahrlich nicht gefehlt. Laut einem Beschluss des Deutschen Bundestages im Sommer 2015 wurde das Kosovomandat der Bundeswehr erneuert, das bis dato schon 16 Jahre währte und an die vier Milliarden Euro gekostet haben soll. Der Bundestagsabgeordnete der Grünen, Dr. Tobias Lindner, vier Jahre älter als Branislav Gjorgjevski, zeigte sich bei Abgabe seiner JA-Stimme verwundert: »Dieser Bundeswehr-Einsatz dauert fast die Hälfte meines Lebens«. Zu vertieften Einsichten könnte ihm vielleicht ein ›Rollentausch‹ mit Branislav Gjorgjevski verhelfen – Lindner als Beobachter der Bundeswehr, wie sie auf dem größten Truppenübungsplatz des Balkans (Krivolak) im östlichen Teil von Zentralmazedonien und zusammen mit anderen NATO-Truppen Krieg übt – mit einem garantierten mazedonischen Grundeinkommen von 150 Euro (monatlich), und Gjorgjevski als Schriftsteller in Berlin mit dem garantierten Grundeinkommen eines Mitglieds des Verteidigungsausschusses des Deutschen Bundestags (sechs bis acht tausend Euro monatlich).
Die politbürokratischen Schlagworte zu Mazedonien in deutschsprachigen Medien sind leicht zusammengestellt, ganz zu schweigen von soliden landeskundlichen Daten, jedenfalls solange es noch ein Internet für jedermann gibt, in dem sich diese auffinden lassen. Hier eine Auswahl: gefährliche Sackgasse, autoritäre Halbdemokratie; Medien(un)freiheit in Südosteuropa, Staatskrise, Land in Auflösung, [111] Mafia-Staat, Frontstaat gegen Flüchtlinge, Jugendrevolte, EU- und NATO-Beitritt, Frontex-Einsatz, Balkangipfel, Balkanroute noch dichter machen, Balkanroute nicht dicht machen, lost in Transition, Truppenübungsplatz Krivolak, Rechtsstaatlichkeitsmissionen der Europäischen Union, Eulex, Camp Bondsteel ... ... ...
(...)
Die selbst geschaffenen »Fegefeuer« der Menschheit sind vielfältig und unabsehbar.
Der existenzielle Ausgangspunkt des heute (2016) Dreißigjährigen ist seine nach dem Jugoslawienkrieg seiner Kindheitsjahre (die 1990-er Jahre) mit Nuklearstaub von abgereicherten Uran belastete Heimaterde. Erzählend wehrt er sich dagegen, dass aus seiner Generation eine Generation von Stalkern wird, für die er das Epitaph im Frühjahr 2015 eigentlich schon geschrieben hatte.
»Meine Generation, in der zweiten Hälfte der 80-er Jahre des vergangenen Jahrhunderts (1985-90) geboren. Menschen, geboren vielleicht in der progressivsten Periode, unmittelbar vor dem Zerfall der ehemaligen Föderation. Eine Generation, die im Sozialismus geboren, in der Übergangsphase erzogen wurde und im Kapitalismus funktionieren sollte. Im Unterschied zu den vorhergehenden war meine Generation zu jung, um die Schrecken der gesellschaftlichen Reformierung zu erfassen, doch zugleich vollkommen bereit, sich auf diese ganze technologische Blüte einzulassen. Wir sollten eine Generation sein, die eine neue Welle von Ideen mit sich brachte, völlig im Einklang mit den zeitgenössischen westlichen Werten. Doch stattdessen hat meine Generation ihre Fähigkeiten auf die Bedürfnisse der westlichen Zivilisation abgestimmt. Im Westen und nicht hier, versteht sich. Meine Generation ist heute von Hoffnungslosigkeit und Gleichgültigkeit okkupiert. Meine Generation tut heute alles, außer an einer besseren Zukunft zu bauen. Meine Generation arbeitet heute auf Schiffen, in McDonalds-Filialen, wechselt Asbesttafeln aus und legt Fliesen auf jedem Meridian von hier bis Kalifornien. Es gibt auch solche, die an angesehenen[113] höheren Bildungsinstitutionen lehren und verantwortliche Aufgaben in renommierten Einrichtungen wahrnehmen. Hier, in dieser unserer Heimat, lebt meine Generation auf Sparflamme. Sie verbraucht ihre Leben von heute auf morgen. Sie träumt von besseren Tagen, während sie darauf wartet, dass ihr jemand einen Brosamen zuwirft, von dem dieser jemand denkt, dass er ausreichend sei. Sie träumt von einer festen Arbeitsstelle, während sie das Antragsformular für eine dauerhafte Aufenthaltserlaubnis in irgendeinem anderen Land ausfüllt. [...] Als ich in diesen Tagen die besetzten Fakultäten besuchte, sah ich eine Generation oder wenigstens einen soliden Teil einer Generation, die nicht unter den Umständen leben will, die meine Generation zugelassen hat. Ich sah eine Generation, der das Sicheinsetzen für das eigene Land wichtiger ist als Green Cards und Auswanderungsvisa. [...] Mögen diese Menschen nach uns das zurückerobern, was uns nicht zu verteidigen gelungen ist. Mögen sie Wissen und Werte okkupieren, anstatt es zuzulassen, dass sie selbst von Mittelmäßigkeit und Maulheldentum okkupiert werden.« (A.d. Mazedonischen von Erika Beermann, »Die okkupierte Generation«, gjorgjevski.blogspot.de)
23 Kurzgeschichten abseits der Balkanroute also, doch sie treffen mitten hinein ins Herz Europas.