Bernd von der Walge
Bernd von der Walge
Bernd von der Walge
Bernd von der Walge

Auszug aus Michail Schaiber-Sokolski: Der Geheime Geist. Ich schreibe Samisdat. Marburg: «Blaue Hörner Verlag». 1999. Archivexemplare bei Amazon.de.

Nach einer monatlichen Abwesenheit [von Moskau] war ich in der Lage [Frühjahr 1992], vorurteilslos und nüchtern wie ein Fremder die reale psychische Situation in meiner Heimat zu erkennen, zu durchdenken, samt allen Zukunfts-perspektiven zu analysieren. Mein Verstand und mein Gefühl sagten mir das gleiche: Die Intelligenzija wird nicht mehr sein, was sie war — vielleicht nie wieder. Bestimmt nie wieder in absehbarer Zukunft. Nicht um die gestiegenen Preise der Zeitschriften, nicht um die Entwöhnung vom Samisdat, nicht um die Auflösung der Zirkel und sonstigen Verbreitungswege ging es. Es ging um den Verlust der historischen Grundmerkmale jenes Menschentyps, der in Russland die alteuropä­ischen Werte, die Urwerte der Geistigkeit, des Idealismus, des Logozentrimsus, lebendig erhalten hatte, als die anderen Völker des Erdteils in ihrer materialistischen Geschäftigkeit sich vom eigenen Geist längst abgewendet, sich selbst enterbt hatten. Und ich begriff, wie es gekommen war, das tragische Debakel der großen Hoffnung.

Es wäre logisch, natürlich, historisch gesetzmäßig gewesen, hätte die Intelligenzija nach ihrem Sieg über die kommunistisch-konservative Verschwörung im August 1991 die Macht, über die sie faktisch verfügen konnte, einem jener Vertreter der geistigen Elite zugesprochen, die sich in dieser Schicksalszeit aktiv mit den politischen Belangen beschäftigten. Es gab ihrer mehrere, und ich war Zeuge, dass in verschiedenen Gruppen der Intelligenzija ihre Namen genannt wurden, als unmittelbar nach dem Augustsieg Diskussionen über den weiteren Weg Russlands entbrannten. Es war daher nicht nur für mich allein eine Enttäuschung, als stattdessen ein Mann wie Jelzin ohne ernsthafte Einwände von seiten der Sieger die Zügel in die Hand nehmen durfte – ein Mann, der außer einer Karriere in der einst herrschenden Partei, einer konsequent kritischen Einstellung zu ihrer ganz offensichtlich fehlgegangenen Strategie und einer gewissen Entschlossenheit und Kühnheit in den entscheidenden Tagen nichts, buchstäblich gar nichts vorzuweisen hatte. Von diesem Mann konnte im Grunde nichts Größeres erwartet werden, als was er tatsächlich versprach und in die Wege zu leiten suchte – eine Umgestaltung der Wirtschaftsstruktur, was nach marxistischen Theorien und derzeitigen westlichen Maximen ausschlaggebend sein sollte für das gesamte Gesellschaftsleben in allen seinen Formen und Äußerungen, von der Geisteskultur bis hin zur Freiheit des Geschlechtsverkehrs. Die Konzentration auf das Thema Marktwirtschaft war nicht nur an und für sich ein Fehltritt, der sich vornehmlich aus marxistischer Ökonomienanbetung erklären ließ, sie war vor allem ein Verrat an Idealismus und Logozen­trismus der russischen geistigen Elite – und ihrer wesenseigenen Weltsicht, an der ureigenen Mission der Intelligenzija. Und ich konnte nicht übersehen, wie gern ich mich auch getäuscht hätte, dass die Intelligenzija zum allergrößten Teil wirklich in die Falle dieser materialistischen, ökonomiezentrierten Lebensauffassung und Lebensausmalung mit all ihren trügerischen Irrlichtern und Zukunftsversprechen geraten war. Das stellte eine wahre Katastrophe dar — nicht nur für Russland, nein, für die Menschheit. Denn geistige Eliten gab und gibt es ja in so gut wie allen Ländern, aber der Genotyp der Intelligenzija hatte sich in solcher Reinheit nur in Russland erhalten. Ich erkannte alsbald: Der Absturz war eine Folge nicht des fragwürdigen psychischen Zustands einer Zufallsgröße wie Jelzin, sondern der sehr fragwürdigen psychischen Entwicklung dieser entscheidenden Schicht selbst, einer Entwicklung, die von einem krankhaften Gen ausgelöst sein musste, von dem die noch sowjetische Intelligenzija in den glorreichen sechziger und siebziger Jahren nichts ahnte – oder nichts wissen wollte. Wie sonst hätten die einstigen hochstirnigen Samisdat-Verehrer sich derart widerstandslos in den Morast der geistfremden Geld- und -Waren-Welt herabziehen lassen können! Dieses Gen aber war von den bolschewistisch-stalinistisch-realsozialistischen Chirurgen auf zweierlei Wegen zielbewusst in die Psyche der Intelligenzija eingebaut worden: Neben dem Einfluss marxistischer Wirtschaftsidolatrie wurde durch den Eisernen Vorhang alles Westliche zur »verbotenen Süßigkeit« – und da nach der Lüftung dieses Vorhangs jedem offenbar wurde, dass der Westen zwar eine wirtschaftliche, aber keineswegs eine geistige Überlegenheit aufzuweisen hatte, galt nunmehr vielen die Nachahmung der Marktwirtschaft als der unabdingbare erste Schritt zur Europäisierung, und so entstand innerhalb der Intelligenzija statt des alten, geschichtsbewussten Westlertums eine starke Strömung oberflächlicher, flügelloser Vulgärwestlerei.

Damals, an der Wende zum Jahr 1992, hätte es zur Verhütung eines solchen Niedergangs einer charismatischen Persönlichkeit bedurft, die sich über den wirklichkeitsblinden Jelzin und seine pseudoprogressive Umgebung hätte aufschwingen können, um nicht allein die Intelligenzija, sondern auch das Volksganze auf einen prinzipiell anderen Weg mitzureißen. Wäre zuerst der freie Geist wieder erstarkt, wären die Geistesheroen, und vor allem gerade die der Samisdat-Zeit, wieder zu Ehren gekommen, wäre das Bewusstsein, seit mehr als 200 Jahren ein Volk der Dichter und Denker gewesen zu sein, zumindest in den Kreisen der Gebildeten Allgemeingut geworden, so hätten nachher bestimmt auch die Wirtschaftsreformen ganz andere Aussichten eröffnet — denn sie waren nicht an sich fehlerhaft, sie mussten misslingen, weil sie die nationale Atmosphäre vergifteten und vergiften wollten, weil sie die überkommene Geistigkeit nicht untermauerten, sondern untergruben. Hätten sie aber doch Erfolge zu verzeichnen gehabt, so wäre das als »Beweis« der Gültigkeit ökonomiezentrischer Dogmen ausgelegt worden...

Unterdessen war um jene Jahreswende etwas vorgegangen, das ich erst jetzt, im Frühjahr 1992, mit schmerzlichem Unverständnis erkannte: Die noch unlängst politisch engagierten Männer des Geistes, von denen man in verschiedenen Zirkeln den erlösenden Schritt zu einer charismatischen Führungs­rolle erhofft hatte, waren dieser ihrer natürlichen Berufung in unerklärlicher Weise ausgewichen, hatten kleinmütig Verzicht geleistet, hatten an sich selbst, aber damit auch an der Gemeinschaft historischen Verrat geübt.

Ich beispielsweise glaubte den berufenen Führer des neuen Aufbruchs in Juri Afanassjew sehen zu dürfen, einem hochgebildeten Historiker, dessen Spezialgebiet Frankreich war und der an der von ihm geleiteten Hochschule als einziger ein Samisdat-Archiv angelegt hatte. Bei Dutzenden Tagungen des Kongresses der Volksdeputierten und des Obersten Sowjets, auf zahllosen großen Versammlungen und öffentlichen Foren hatte er mit solcher Leidenschaft und Überzeugungs­kraft, mit solcher Gedankentiefe und Sprachgewalt, mit solchem Kampfeswillen und Auftragsbewusstsein gesprochen, dass alle Zuhörer, darunter die Millionen und Abermillionen an den Fernsehern unweigerlich mitgerissen wurden. Ich war daher bis ins Innerste entsetzt, als ich erfuhr, dass dieser geborene Volksführer ausgerechnet in den Tagen des entscheidenden Umschwungs darangegangen war, eine neue höhere Lehranstalt (die sogenannte Russische Geisteswissenschaftliche Universität) aufzubauen – mochte es sich dabei auch um ein an und für sich durchaus begrüßenswertes Vorhaben handeln, ich konnte dergleichen in dieser Schicksalsstunde nur als eine Art Fahnenflucht empfinden.

Ähnliches mussten auch manche meiner Freunde erleben, die mit dem geschichtlichen Verantwortungssinn anderer Vorkämpfer des Geistes gerechnet hatten.

Um nur einen besonders krassen Fall zu nennen: Das schärfste, kampflustigste und prinzipiellste Organ der Partei des freien Geistes war in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Wochenillustrierte »Ogonjok« gewesen, deren Chefredakteur, der berühmte ukrainische Dichter Vitali Korotitsch, als einer der distinguiertesten Wortführer der progressiven Front auftrat. Und dieser Mann der Hoffnung ließ im kritischen Augenblick plötzlich alles stehen und liegen: Er fuhr nach Amerika, um an einer der zweitrangigen Provinzuniversitäten eine Lehrstelle für Journalistik anzunehmen!

.... 

Mir scheint, daß gerade der offenkundige Zusammenhang zwischen dem heutigen Zustand der selbstverräterischen einstigen Intelligenzija und dem Untergang des Samisdat als typisch russischen geistigen Mediums ein klar sichtbares, eindeutiges Zeichen ist, das den Weg zur Wiedergeburt dieses einmaligen Menschentyps weist: Trotz der »Reform«, die von den marxistisch erzogenen Marktwirtschaftsanbetern zu einem für den Volkswohlstand, erst recht aber für das Geistesleben fatalen Fiasko gesteuert wurde und gesteuert werden mußte, gibt es einen Ausweg aus der gegenwärtigen Misere. Und dieser Ausweg liegt, wie paradox es in unserem High-Tech-Zeitalter erscheinen mag, in der Wiedergeburt des Samisdat als der großen Tradition, die seit eh und je geistige Elite und Samisdat vereinte.

Die von dieser Tradition untrennbare Erinnerung an unbeugsamen Bürgermut und bleibende Geistestaten würde nicht nur das Selbstbewußtsein und Ethos der Intelligenzija wiedererwecken — sie würde das ganze Volk mittelbar beeinflussen und allen Heim­suchungen zum Trotz seelisch aufrichten, wie dies in den düstersten Perioden seiner Geschichte schon so oft geschehen ist.

Ich sehe den einen Weg: Es muß alles getan werden, damit die Kommenden tiefe Ehrfurcht hegen vor der Generation der Väter und Mütter, die in einer Zeit ständiger Verfolgungn von seiten des Staates und seiner ideologischen Mächte nie auf ihre geistigen Bestrebungen Verzicht leisten wollte. Eine solche Ehrfurcht würde das Verlangen wachrufen, es den Älteren gleichzutun, sie würde eine neue idealistische Welle hervorrufen, die der Alleinherrschaft des Geld-Ware-denkens, des Ökonomiezentrismus ein Ende setzen könnte.

 Um dies zu erreichen, müßte vor allem das wertvollste Erbe der geheimen Renaissance, das entscheidende Zeugnis des geistigen Widerstands — der Samisdat — der Vergessenheit entrissen, für künftige Geschlechter gerettet, als wichtigstes Bindeglied zwischen den Zeiten erforscht und, soweit möglich, veröffentlicht werden ...

Wie aber ist es darum bestellt?

Das traurige Bild, das die große Hoffnung von einst, das Moskauer »Volksarchiv« nunmehr bietet, kann als Wahrzeichen des heutigen schändlichen Zustands der gesamten Gesellschaft dienen.*)

Russland als geistige Großmacht, ale geistige Weltmacht wird erst dann auferstehen, wenn es sich wieder seiner wahren Werte, seiner wahren Alternativen und Potenzen bewußt wird. Wenn es auf sein heute verschmähtes Erbe zurückgreift ...

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*) Die „einzigartigen“ Bestände des „Narodnyj archiv“ – zwei Dreizimmerwohnungen – wurden laut ru.wikipedia wegen fehlender Finanzierungsmöglichkeiten im Jahr 2000 an das „Russische Staatsarchiv für Zeitgeschichte“ abgegeben. Die Links des damaligen Leiters des „Volksarchivs“, Prof. B. Ilisarow, in diesem Artikel sind heute – 03. Februar 2014 – nicht mehr aufrufbar. Am Leben gehalten wird die russische Samisdat-Tradition heute noch von der „Forschungsstelle des Osteuropa-Instituts der Universität Bremen

 

 

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