Witali Korotitsch - Vitalij Korotič - Виталий Коротич (*1936 Kiew)
Переведiть мене через майдан –Führt mich hinüber über den Maidan
In Deutschland wurde dieser "wahrhafte Europäer", wie ihn Michail Schaiber-Sokolski genannt haben würde, nur einmal von der politischen Öffentlichkeit wahrgenommen. Das war Anfang November 1989, als der damalige SPD-Vorsitzende Hans-Joachim Vogel, Witali Korotitsch – er war Chefredakteur der überaus angesehenen und meistgelesenen Moskauer Zeitschrift "Ogonjok" ("Das Feuerchen", Auflage zeitweise 4,5 Millionen) und einer der publizistischen "Speerspitzen" der unter Michail Gorbatschow möglich gewordenen unzensierten Öffentlichkeit (russisch: Glasnost) – den Druck der von der Parteizeitung "Prawda" gestrichenen obligatorischen Farbbeilage versprach. Als Gegenleistung erwartete "Vogel", wie Korotitsch in seinen Erinnerungen "Von der ersten Person" (russisch, Charkov: "AST", 2000, S. 332) schreibt, dass die SPD auf jeder Seite als Sponsor genannt werden sollte. Korotitsch konnte zu seiner Erleichterung auf den "Deal" verzichten, da die "Prawda" die Beilage vertragsgemäß doch noch druckte.
1990 erschienen aus "Ogonjok" Artikel und Erzählungen bei Rowohlt in Hamburg, nachdem ein amerikanischer Verlag vorangegangen war. Damit war die "Wirkungsgeschichte" eines der angesehensten "sowjetischen" Schriftsteller der Glasnost-Periode in Deutschland bereits zu Ende (einen Eintrag in der deutschen Wikipedia erhielt er nicht, der englische endet 1992!). Der bei der alten sowjetischen Nomenklatura zutiefst verhasste Witali Korotitsch erhielt im Verlauf des gegen Gorbatschow gerichteten Putschversuchs im August 1991 den dringenden Rat, das Land zu verlassen. Und dies, obwohl der Putsch eigentlich fehlgeschlagen war! Er tat dies umgehend und trat eine Professur für Russische Literatur in Boston (USA) an. Von dort, wo er 1990 eine der weltweit höchsten Auszeichnungen für Publizisitik erhalten hatte, kehrte er 1998 in seine heimatliche Ukraine zurück, wo er bis heute – 19. Februar 2014 – schriftstellerisch und publizistisch tätig ist. Die Beweggründe und Hintergründe seiner Tätigkeit während der Glasnost-Periode legte er in den genannten Erinnerungen "Von der ersten Person" ausführlich dar. In Deutschland fand sich für diese "Rückblicke in der ersten Person" kein Verlag mehr, sie hätten Europa einiges über die heutigen Vorgänge (Februar 2014) auf dem Kiewer "Euro-Maidan" erklären können.
In der Sowjetunion erlangte Korotitsch, der mehr oder weniger "sowjetkonform" ukrainisch wie russisch publizierte, 1980 erste Berühmtheit – durch ein lang nachwirkendes, bis heute beachtenswertes Mißverständnis. Sein 1971 nach dem tragischen Todes seines Sohnes in ukrainischer Sprache entstandenes Gedicht "Wer führt mich hinüber über den Majdan" nahm die Kiewer Dichterin Junna Moriz (*1937) als Vorlage für eine ziemlich freie, "poetisierende" Übertragung "Führ mich über den Majdan". Erst diese, vom ukrainischen Original weit abweichende Übertragung inspirierte dann ein junges Sängerehepaar – die "Nikitins" – zu einem Lied, das es aufgrund seiner Emotionalität zu großer Bekanntheit brachte – und dies bis heute. Erst Ende 2013 und Anfang 2014 wurde in einigen Beiträgen im russischen und ukrainischen Internet auf die wesentlichen Unterschiede der beiden Fassungen detailliert hingewiesen (David Ejdelman, Olga Cigirinskaja). Bereits kurz nach dem Erscheinen der Liedfassung 1980 war den lyrikkundigen, um nicht zu sagen lyrikbesessenen, russischen und ukrainischen Hörern aufgefallen, dass vor allem die letzte, also die siebte Strophe keinerlei Sinn ergab. Sie galt daher als "skandalös". Niemandem fiel es jedoch seinerzeit ein, die melancholische Weitsicht gerade dieser siebten Strophe sich genauer anzusehen. Eine Stimme im heutigen ukrainischen Internet bekennt offen: "Ich habe dieses Lied geliebt, aber nichts, aber auch gar nichts verstanden." – Damit nicht auch der deutsche Hörer dieser "Magie" verfällt, sei hier der epische Gang der Originalfassung kurz nachgezeichnet: "Die letzte Bitte eines alten Liraspielers" ist die Bitte eines dem Tode nahen blinden Liraspielers an die Besucher des "Majdan" – das ukrainische Wort für "Platz" –, ihn auf die andere Seite des Platzes hinüberzuführen, dorthin also, wo der "Majdan" in seiner Jugendzeit in freies Feld überging. Die Erkenntnis des Blinden, dass dieses "freie Feld" nicht mehr existiert, führt zu seinem Zusammenbruch inmitten der Menschenmenge im Zentrum des Majdan. –
Mit der Übersetzung, die ich hier für deutsche Leser und/oder Hörer anführe, hat es eine besondere Bewandtnis. Sie entstand 2003 nach der russischen Übertragung von
Junna Moriz durch Michail Schaiber-Sokolski. Sie sollte Eingang finden in eine Rundfunksendung des SWR II (Abt. Literatur) über Witali Korotitsch. Die Sendung kam nach dem Wechsel der Redaktion nicht
mehr zustande – Sender und Hörer waren im Einklang mit der übrigen deutschen Öffentlichkeit der russischen Thematik offenbar überdrüssig geworden. Die bestürzenden, möglicherweise Europa umstürzenden
Ereignisse auf dem Majdan in Kiew riefen in mir die Erinnerung an Korotitsch und sein Majdan-Gedicht wieder wach. Ich habe die einstige Übersetzung daher anhand des ukrainischen Orginals überarbeitet
und geändert, wo es mir nötig schien.
Auf Youtube findet sich heute die Liedfassung der "Nikitiny"
http://www.youtube.com/watch?v=IM_V3juzb0k
Hier unten auch als mp3 zum Download.