Michail Schaiber-Sokolski
Der Zug hält in Warschau.
(Erinnerung an 1936)
Aus dem Russischen übersetzt von Erika Beermann
Herausgegeben von
Bernd E. Scholz
Die Übersetzung dieses Abschnitts der Erinnerungen Michail Schaiber-Sokolskis (1923-2005) steht in engem Zusammenhang mit der gleichzeitigen Herausgabe der deutschen Übersetzung seines Samisdat-Essays von 1984 »Der Geist angesichts der Weltkatastrophe«. Denn dieser Besuch Warschaus im Sommer 1936 von Moskau aus, bei dem es vordergründig um den Verkauf des Persianermantels der Mutter und um Kleidereinkäufe für den russischen Winter geht, wird zum Anlass einer umfangreichen Reflexion über jüdische »Ghettomentalität« und ihre Überwindung. Diese ahnungsvolle Begegnung des Dreizehnjährigen mit den in dieser spannungsreichen Dichte in Europa einzigartigen Realitäten der Warschauer jüdischen Welt wird »eingerahmt« durch die Frage nach den Wirkkräften des väterlichen und mütterlichen Erbes der aus Kielce und Lodz stammenden Eltern und ihrem selbst gewählten Leben in der jungen Sowjetunion und weit darüber hinaus . . .
»Nostalgisches« Filmmaterial zur Veranschaulichung des Alltagslebens im Warschau der Vorkriegszeit 1936 betrachtend, schreibt ein heutiger Bürger Warschaus: »Wie sähe unsere Hauptstadt heute aus, wenn es die gewaltigen Zerstörungen während des Zweiten Weltkriegs nicht gegeben hätte? Wäre es eine Stadt, die sich mit den westlichen Hauptstädten messen könnte? Betrachtet man all die lächelnden Gesichter, die durch Warschau eilenden Juden – waren sie sich wohl darüber im Klaren, was sie schon wenige Jahre später erwartete?« . . .
Weimar (Lahn) 2021, 101 S.
ISBN 978-3-926385-06-2 (Bernd E. Scholz)
Available at www.amazon.de
Preis: 8,00 €
Format: 12,7 x 20 cm
Ab 15. September und/oder auch als eBook!
LESEPROBE:
»Natürlich wusste ich, dass die Juden ein Drittel der Bevölkerung der polnischen Hauptstadt ausmachten, ich
hatte auch davon gehört, dass sie sich in weitaus höherem Maße als die stark assimilierten Juden Deutschlands und der Sowjetunion ihre nationalen und religiösen Bräuche bewahrt hatten und nicht nur
Jiddisch konnten und ständig gebrauchten, sondern in der Regel auch Althebräisch lernten usw. Und nichtsdestotrotz verblüffte mich das, was ich hier zu sehen bekam, zutiefst.
Ich kann nicht sagen, welcher Teil der Warschauer Juden außerhalb der abgesonderten, gewissermaßen autonomen jüdischen Viertel wohnte, sich europäisch kleidete und am polnischen kulturellen,
gesellschaftlichen und vielleicht auch politischen Leben teilhatte. Doch die Bewohner des Bezirks, wo wir uns am Abend unserer Ankunft wiederfanden (meine Mutter hatte offenbar eine Adresse, wo wir
absteigen konnten; das war eine ganz gewöhnliche, in jeder Hinsicht typische Familie von mittlerem Einkommen und durchschnittlichem kulturellen Niveau), stellten gewissermaßen eine Enklave
vergangener Jahrhunderte in der Welt jener Zeit dar, eine Stadt in der Stadt, wo betont, demonstrativ nicht nur die Tracht, nicht nur die Sprache, nicht nur der ganze Lebensanstrich, -rhythmus und
-stil, sondern in bedeutendem Maße auch die Ghettomentalität selbst gepflegt wurde. Die Selbstidentifizierung auf der Basis des Nichtanerkennens dieser großen, jahrhundertealten Kluft des Ghettos,
dieser Kluft zwischen dem Ghetto und der Welt, die das Judentum im letzten [dem 19.] Jahrhundert geübt hatte – eben dies bildete den Kern seiner Weltanschauung, abweichend sowohl von der historischen
Bewegung der Europäisierung, Modernisierung und Kosmopolitisierung als auch von der zionistischen Idee der Rückkehr in die alte Heimat.
Für diesen Teil der Juden war das Ghetto die historische Heimat. Im Unterschied zu dem Juden der Neuzeit, der für sich und sein Volk um eine neue Heimat kämpfte und eben damit um einen Platz unter
der Sonne der allgemeinen Menschheit, mochte diese neue Heimat Israel sein, Amerika, Deutschland, Polen oder Sowjetrussland, pochten die Patrioten des Ghettos, die Nostalgiker des Ghettos mit vollem
Lebenseinsatz und durch ihre Denkweise auf ihrem Recht, »in heimatlicher Erde zu sterben«, wie unsere Nachbarin im Zugabteil gesagt hätte – und diese Heimaterde war eben der Ghettofriedhof …
Obgleich die unvermittelte, paradoxe, assoziative Verbindung zwischen den Warschauer Juden und dem Sohn unserer Reisegefährtin, der plötzliche Gedanke an eine innere Verwandtschaft, eine
gewissermaßen metahistorische Übereinstimmung ihrer Schicksale mir damals nur flüchtig in den Sinn kam und vollkommen zufällig schien, hat sich mir dieser Moment deutlich eingeprägt – und in den
folgenden Jahren und Jahrzehnten bin ich so manches Mal darauf zurückgekommen, wenn ich an die Rolle von Diaspora und Emigration bei der Evolution der menschlichen Gesellschaften überhaupt und bei
der Entwicklung des Geistes, insbesondere bei der Entwicklung von Zivilisationen und Kulturen dachte.
Diese Überlegungen spiegeln sich mehr oder weniger deutlich in all meinen Werken wider (auf jeden Fall in »Der Geist angesichts der Weltkatastrophe«, »Blutige Seelenverwandtschaft«,
»Verborgene Offensichtlichkeit«, »Konfrontation der Wesenheiten«), doch als eigene Abhandlung eines eigenständigen Themas, als konsequente, mehr oder weniger geordnete Zusammenstellung der Meinungen
und Beurteilungen dazu habe ich sie noch nie dargelegt. Wenn ich deshalb hier den Einfluss jener ersten Warschauer Tage auf mich beschreibe, werde ich logischerweise meine lebendigen Eindrücke mit
meinen späteren Ansichten und Thesen kommentieren und meine bruchstückhaften Entdeckungen von damals in mehr oder weniger zusammenhängender Form darstellen.
Das Judentum außerhalb Israels hat stets – und war es im Laufe vieler Jahrhunderte auch wirklich – als das charakteristischste, reliefartig ausgeprägteste, als original klassisches Beispiel einer
Diaspora im Ausland gegolten, wie es die Weltgeschichte nur irgend kennt. Allerdings verkomplizierte sich das Bild vom Weggang aus einer tausendjährigen Heimat und allmählicher Verstreuung über die
ganze Welt hier durch eine ganze Reihe sehr wesentlicher Züge, die anderen Fällen von Massenexodus und Auflösung ethnischer Gemeinschaften – in den Zeiten der großen Völkerwanderungen wie auch in
gemäßigteren, geopolitisch stabileren Epochen – nicht eigen sind, wenigstens nicht in so hervorstechender Form.
Eine solche Besonderheit ist natürlich vor allem die tief verwurzelte, von unzähligen Generationen und sowohl vom Volk selbst als auch von den es umgebenden Nationen vererbte, in vieler Hinsicht
völlig gesetzmäßige Vorstellung, dass die Juden weniger eine Ethnie als vielmehr eine religiöse Gemeinschaft darstellten. Gerade in der Verbannung, wo der Glaube der Vorväter stets der entscheidende
Faktor blieb, der das Überleben des Judentums als einer Einheit, als eines Subjekts und Objekts der Geschichte gewährleistete, fand eine solche Vorstellung offenbar bedingungslose und offensichtliche
Bestätigung.
In der Tat, wenn eines der grundlegenden volksbildenden und volkstragenden Prinzipien – sei es oftmals auch im Verborgenen – die Idee einer Nation ist, genauer gesagt, die Idee einer Zivilisation,
die den Platz eines Volkes in der Menschheit bestimmt, in der Evolution des menschlichen Geistes, so stellte die führende Idee der altjüdischen Zivilisation, der Monotheismus, gerade eine solche Idee
par excellence dar – die jedoch auf den Gang der geistigen Evolution der Außenwelt ebenda mit äußerster, mit nichts zu vergleichender Kraft einwirkte, als das Volk selbst nicht nur seine
Staatlichkeit, sondern auch sein natürliches ethnisches Gesamtgefüge, seine geopolitische Existenz verloren – und sich dabei in vollem Maße seine zivilisatorische Identität, seine nationale Idee
bewahrt hatte.
Doch neben diesem bedeutungsvollsten Zug der jüdischen Diaspora gab es auch noch andere spezifische Besonderheiten, die sie in allen Epochen vor der Mehrheit ähnlicher historischer Phänomene
auszeichneten. Eine Besonderheit, scheinbar eng verbunden mit dem grundlegenden, religiösen Pathos des jüdischen nationalen Lebens, doch in Wirklichkeit keineswegs vollständig mit diesem
zusammenfließend, sondern in vielen Zweigen aus diesem herausrankend, eine zutiefst organische, existentielle, genetisch gefestigte Besonderheit war das beharrliche Gefühl einer nationalen Mission
anderer Art, das beständig gegenwärtige Leben einer anderen nationalen Idee – der Idee des Buches. Im frühen Mittelalter hatte diese Idee tatsächlich kein eigenes Leben gelebt, sie war real mit der
religiösen Idee zusammengewachsen, zusammengefallen, und das Buch, groß geschrieben, war mit der Heiligen Schrift und der nachfolgenden dogmatischen, exegetischen und liturgischen Literatur
identifiziert worden. Bereits tief in der mittelalterlichen Gemeinde gewann der Kult des Buches jedoch immer mehr an selbständigem, allgemeingeistigem, allgemeinmenschlichem Inhalt, und diese
psychologische Entwicklung fand einen immer intensiveren wechselseitigen Austausch in den analogen Prozessen der christlichen und der moslemischen Welt. Doch während dieser Kult außerhalb des
Judentums stets ein Privileg verschiedener geistiger und intellektueller Eliten blieb, wurde er in der jüdischen Gesellschaft, die vergleichsweise weniger scharf nach Kasten je nach Grad der
Schriftkundigkeit und Aneignung geistiger Interessen geschieden war, zum Schlüsselmoment der Gesamtherausbildung sozialer Gene – und vielleicht auch der biologischen Gene. Eben der sozialbiologische
genetische Fonds des Volkes, den der Kult des Buches hervorgebracht hatte, verwandelte diese unikale Diaspora in eines der entscheidenden Fermente jenes explosionsgleichen Anwachsens intellektueller,
schöpferischer Spannung, die in den letzten Jahrhunderten nahezu die ganze Menschheit verändert hat. Und das war unzweifelhaft verbunden mit der fortschreitenden Säkularisierung der jüdischen
Mentalität, mit der sich immer deutlicher abzeichnenden Differenzierung zwischen Gotteskult und Buchkult.
Die nationalen Diasporas im Ausland haben im Unterschied zur politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Emigration stets eine bedeutende kulturell vermittelnde, kulturtragende Rolle gespielt,
unabhängig davon, ob die Gastzivilisationen hochentwickelt oder halb barbarisch, verwandt oder völlig fremd waren. Doch selbst die klassische griechische Diaspora der ersten Jahrhunderte europäischer
Zivilisation ließ sich in ihren geistigen Impulsen, ihrer geistigen schöpferischen Leistung über eine so lange Periode der menschlichen Evolution hinweg schwerlich mit dem über die ganze Welt
verstreuten Volk des Buches vergleichen.
Nahezu die auffälligste und eine vielfach erwähnte Besonderheit dieser nationalen Diaspora war jedoch ihre Diskriminierung, im weitesten, vieldeutigsten, widersprüchlichsten Sinn dieses Wortes – von
dem berüchtigten Berufsverbot, vom Verbot des Landerwerbs usw. bis hin zu ihrer institutionellen Ausgrenzung durch unterschiedlichste Beschränkungen –, ihre Diskriminierung in Lebensraum, Kleidung
und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Dabei handelte es sich allerdings um einen äußerst zwiespältigen, veränderlichen Prozess. Traten im ersten, frühmittelalterlichen Stadium als aktive Seite
eher die Juden selbst auf, die ihr geistiger Überlebensinstinkt dazu veranlasste, sich als Gemeinschaft anzusiedeln und sich in ihrer äußeren Erscheinung von ihrer Umgebung abzuheben, wie das auch
die Vertreter vieler anderer historischen nationaler Diasporas taten, so wurde nach den Kreuzzügen und den wüsten Verleumdungen zur Zeit der Pestepidemien die Isolation nicht nur durch den
politischen Willen der klerikalen und weltlichen Machthaber zu etwas Aufgenötigtem, gewaltsam Erzwungenen und Unumgänglichen, sondern auch durch den Fanatismus der lokalen Bevölkerung. Mittelbar,
potentiell, in der historischen Perspektive erwies sich dieses qualvolle Ghetto jedoch als notwendige Schlüsselphase einer gigantischen Heldentat – einer keineswegs religiösen, sondern vollkommen
irdischen, durch und durch menschlichen. Und es handelte sich nicht nur darum (wie es für gewöhnlich dargestellt wird), dass das Ghetto, das die Juden dazu zwang, sich auf ein relativ enges Spektrum
von Handwerken und Berufen zu konzentrieren, exklusive Traditionen hervorbrachte und eine vererbte hohe Qualifikation auf Gebieten wie Medizin, Finanzen, Buchwesen, Juwelierkunst usf. Und auch nicht
nur darum, dass das Ghetto, wie es heißt, der gesamten jüdischen Diaspora eine gewisse kollektivistische, demokratische, liberal-humanistische Veranlagung verlieh, was mit der Zeit an der ideellen,
gesellschaftlichen und politischen Ausrichtung der Mehrheit des Volkes deutlich wurde. Eine unvergleichlich größere, in gewissem Sinne überhistorische Bedeutung gewann jedoch in der Tat ein anderer
Einfluss des Ghettos auf die Psychologie und allgemeinnationale Ausrichtung des Judentums: Reaktion auf die totale Beschränkung der Freiheit der Person sollte unweigerlich jene titanische Anstrengung
zur Selbstbefreiung werden, zur totalen Selbstemanzipation und Selbstindividualisierung, zur Zerstörung des Ghettos als objektive Realität und als subjektives psychisches Erbe; eine Anstrengung, die
den Juden der Neuzeit gerade in den radikalsten und tatkräftigsten Träger des humanistischen Ideals, der pluralistischen Kultur, des neueuropäischen Prinzips verwandelt hat. Darin, dass sich der
jüdische Dynamismus, der sich im Zuge eines jahrhundertelangen Kampfes mit der Unbeweglichkeit des Ghettos entwickelt hatte, als eine der entscheidenden Kräfte der Modernisierung und Rationalisierung
der nationalen Ökonomien und der Weltwirtschaft erwies, von deren Verwandlung in moderne Marktstrukturen, ferner der extremen Beschleunigung des Lebensrhythmus, der zur Fortschwemmung einiger
traditioneller Grundpfeiler traditioneller Gesellschaften führte, und der weitreichenden Internationalisierung und Kosmopolitisierung von Schlüsselprozessen der Zivilisation, was die Möglichkeit
einer schrittweisen Verschmelzung der gesamten Ökumene in eine einzige Zivilisation ankündigte – in all dem erblickten die rückständigen Antisemiten nicht ohne eine gewisse Berechtigung einen der
entscheidenden Aspekte des jüdischen Einflusses auf die Weltentwicklung der letzten Jahrhunderte. Sie hielten einen derartigen Einfluss für verderblich, und in Anbetracht der romantischen Bindung an
das Mittelalter entbehrte eine solche Auffassung nicht der Logik. Allerdings könnte man zu bedenken geben, dass eine analoge Mission in den meisten Ländern sämtlicher Kontinente seinerzeit auch die
deutsche Diaspora übernommen hat, als Trägerin des Ethos und des Pathos der protestantischen Weltanschauung.
Obgleich ich im Warschau von 1936 noch weit von dem Gedanken entfernt war, dass die demonstrative Ghettonostalgie nichts anderes war als ein Gegenpart zu der antisemitischen Position, riefen das mich
verblüffende Bild und die Atmosphäre der jüdischen Viertel in mir nicht nur und nicht so sehr Unverständnis und inneren Protest hervor als vielmehr ungute Vorahnungen. Mit ähnlichen Vorahnungen ist
auch meine ganze spätere – von diesem Tag an gerechnet – Einstellung zu diesem sonderbaren Phänomen verbunden.«